Ausführliche Projektbeschreibung
Das ethnologische TP analysiert die komplexen und konflikthaften Prozesse, die zur Ausbildung transkultureller Emotionsrepertoires führen. Die empirische Annäherung an diese Thematik erfolgt durch die Untersuchung der Sozialisation von Emotionen im transnationalen Feld des vietnamesischen Berlins. Betrachtet wird, inwieweit die in unterschiedlichen sozialen Kontexten vertretenen Emotionsmodelle divergieren und wie daraus resultierende affektive Dissonanzen erlebt und möglicherweise zu neuen Artikulationsformen des Emotionalen verdichtet werden. Im Fokus des Interesses stehen somit die unterschiedlichen Gefühlsordnungen und Modi der Gefühlsbildung, mit denen sich die Nachkommen vietnamesischer Migrant_innen ihren verschiedenen sozialen Zugehörigkeitsräumen (Familie, Peers, Kitas, Schulen, Vereine, Berufsfelder etc.) auseinandersetzen müssen. Der Terminus Gefühlsbildung wird gewählt, da sein Bedeutungsspektrum verschiedene Formen expliziter Erziehung ebenso umfasst wie implizite Prozesse der Formung und leiblichen Verankerung von Gefühlen, die sich in alltäglichen sozialen Interaktionen und Verhaltensroutinen vollziehen. Das TP wird mit einem auf die emotionsbezogenen Erziehungspraktiken und -erfahrungen ausgerichteten familienbiografischen, intergenerationalen Ansatz arbeiten. Es zielt darauf ab, die sich in intergenerationalen Kommunikationsprozessen vollziehende Modifikation von Emotionsrepertoires zu erfassen. Das Hauptgewicht liegt auf der äußerst heterogenen zweiten Generation vietnamesischer Immigrant_innen, deren Eltern in den 1970er und 1980er Jahren unter äußerst differenten Bedingungen – als politische Geflüchtete oder angeworbene Vertragsarbeiter_innen – in die beiden damaligen deutschen Staaten gelangten. Es wird angenommen, dass diese unterschiedlichen Migrationskontexte die Gefühlsbildungsprozesse innerhalb der zweiten Generation wesentlich prägen.
Die Relevanz dieser Themenstellung ergibt sich aus der mentalen und körperlichen Verankerung von Emotionen: die im Verlauf der Sozialisation erworbenen Emotionsrepertoires lassen sich aufgrund ihrer tiefen Einbettung in die Leiblichkeit des erfahrenden Subjekts nicht ohne weiteres transformieren, sondern weisen vielmehr eine gewisse Beharrungstendenz auf. Unter emotionalen Repertoires werden die kulturell etablierten Konzepte distinkter Emotionen sowie die mit diesen verknüpften verbalen und nonverbalen Ausdrucksformen und sozialen Praktiken als auch die hierdurch gerahmten Modi des subjektiven Emotionserlebens verstanden.
Indem das TP die Konfliktpotenziale untersucht, die aus Reibungen und Unvereinbarkeiten zwischen unterschiedlichen Formen der Emotionssozialisation entstehen können, macht es bedeutsame affektive Spannungsverhältnisse sichtbar, in welche die Nachkommen von Migrant_innen sowohl in Bezug auf ihre jeweilige Elterngeneration als auch in Bezug auf die (deutsche) Dominanzgesellschaft eingebunden sind. Verfolgt wird ein doppeltes Erkenntnisinteresse: Am Beispiel des vietnamesischen Berlins rückt mit der leitenden Frage nach der Ausformung transkultureller Emotionsrepertoires ein in der bisherigen ethnologischen und soziologischen Migrations- und Transnationalismusforschung weitgehend vernachlässigter Aspekt migrantischer Lebenswirklichkeiten in den Blick. In theoretischer Perspektive leistet das TP damit zugleich einen grundlegenden Beitrag zum besseren Verständnis gegenwärtiger Gesellschaften als Affective Societies.