Ausführliche Projektbeschreibung: Affektive Dynamiken von Bildern im Zeitalter von Social Media
Die politischen Konflikte der letzten Jahre markierten einen immensen Anstieg von Bildzeugnissen. Fotografien und Handyvideos von Protesten, Menschenrechtsverletzungen oder Gewaltakten wurden seit dem sogenannten „Arabischen Frühling“ massenhaft über soziale Netzwerke wie Facebook, YouTube oder Twitter verbreitet und kommentiert. Durch die Allgegenwart kamera- und internetfähiger Smartphones ist fast jede*r von uns zu einem*r potenziellen Bildzeug*in geworden – zugleich sind wir beständig in ein Netzwerk der Affizierung von und durch Bilder eingebunden. Denn die besondere Wirksamkeit von Bildzeugnissen liegt in ihrem affizierenden Potential, in ihrer Fähigkeit zu bewegen und zu mobilisieren. Diese Beobachtung bildete den Ausgangspunkt für unser Forschungsprojekt, das den Begriff der Bildzeugenschaft zum zentralen theoretischen Konzept ausgearbeitet und affekttheoretisch fundiert hat (Konferenz u. Publikation „Image Testimonies. Witnessing in Times of Social Media“; Schankweiler, Straub, Wendl 2019). Auch wenn Praktiken der Bildzeugenschaft keineswegs neu sind, haben die partizipativen Möglichkeiten des Web 2.0 zu einer neuen affektiven Relationalität zwischen den bezeugten Ereignissen, den Zeug*innen vor Ort, ihren Bildern und den Medienzeug*innen geführt. Mit der Bandbreite der in den beiden UPs untersuchten Bildgenres und Fallbeispiele („Selfie-Proteste“, „Märtyrer*innen-Bilder“, „Videos von Polizeigewalt“ und „Videotestamente von Selbstmordattentäter*innen“) konnte gezeigt werden, dass Bildzeugnisse für verschiedene politische Agenden eingesetzt und für gegensätzliche moralische Positionen beansprucht werden, so dass grundsätzlich von einer Pluralität von Zeugenschaft ausgegangen werden muss.
Methodisch arbeiten wir vor allem vergleichend-ikonografisch und verknüpfen dabei die kunstwissenschaftliche Technik der Bildbeschreibung mit Aby Warburgs Konzept der Pathosformel, welches wir als Intensivierungsmodus für die Darstellung affektiven Geschehens neu ausgedeutet haben (im Erscheinen: Schankweiler, Wüschner 2019). Diese Neubestimmung leistet für die Affect Studies einen wichtigen Beitrag, weil sie affektive Intensität als formale Qualität analysierbar macht und unterstreicht, dass Affektivität in Objekten und Bildern formalisiert, gespeichert und über Raum und Zeit hinweg übertragen werden kann. Dadurch ermöglicht das Konzept der Pathosformel auch die Erfassung der historischen Trajektorien affektiver Dynamiken.
Das Projekt ist in 3 Teilbereiche aufgeteilt: Unterprojekt 1 (UP1), Unterprojekt 2 (UP2) und einem Querschnittsbereich (gemeinsam bearbeitet):
In UP1 – bearbeitet von Dr. Kerstin Schankweiler – werden Bildgenres in den Blick genommen, die im Rahmen von zivilgesellschaftlichem Protest im Netz zirkulieren. Untersuchte Genres sind Fotos und Videos aus Straßendemonstrationen (v.a. aus der „Ägyptischen Revolution“ 2011), Märtyrer*innenbilder (Schankweiler 2016a) und eng damit verknüpft Videos von Polizeigewalt mit Fallbeispielen aus Ägypten, Marokko, den USA und Frankreich sowie Selfie-Proteste (Schankweiler 2016b). Letztere orientieren sich in ihrem Repertoire von Gesten an Demonstrationen auf der Straße, haben sich aber vollständig in den digitalen Raum verlegt. Diese Form des politischen Protests kann als Post-Internet-Demonstrationskultur gelten, die sich mittlerweile in zahlreichen Bewegungen im Social Web manifestiert. Bildzeugnisse, so hat sich herausgestellt, sind ein zentraler Bestandteil zeitgenössischer Protestkulturen. Dabei operieren die untersuchten Bildgenres auf unterschiedliche Weise in einem Modus, der nicht nur die Ereignisse selbst dokumentiert, sondern vor allem die Affizierung der Zeug*innen bezeugt, was sich auch in einer besonderen Ästhetik manifestiert (verwackelte und unscharfe Bilder, ungewöhnliche Kameraperspektiven, hektische Zoombewegungen und Sounds, etc.). Diesen Modus von Zeugenschaft hat die Mitarbeiterin als „Affektzeugenschaft“ herausgearbeitet und theoretisiert. Damit wurde einerseits ein wichtiger Beitrag zu Zeugenschaftstheorien aus der Perspektive der Affect Studies geleistet, andererseits wurde Zeugenschaft als ein Key Concept für die Analyse von Affective Societies fruchtbar gemacht (Schankweiler 2016b; Richardson, Schankweiler 2019; Organisation von 3 Panels zum Thema „Affective Witnessing“ (zus. mit M. Richardson, Sydney), Konferenz „Capacious: Affect Inquiry / Making Space“, Lancaster/USA, 2018).
UP2 – bearbeitet von Verena Straub – widmet sich Videotestamenten von Selbstmordattentäter*innen, die als besondere Form der Täter*innenzeugenschaft diskutiert werden. Im Rahmen des Dissertationsprojekts „Bezeugen – Erzeugen – Überzeugen. Das Selbstmordattentat im Bild“ (im Oktober 2018 eingereicht) wurde ein umfangreiches Bildkorpus erstellt, das die historische, mediale und politische Bandbreite dieses Genres aufzeigt und von den Videotestamenten säkularer Selbstmordattentäter*innen der 1980er Jahre bis zu den heutigen digitalen audiovisuellen Testamenten jihadistischer Attentäter reicht. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die Frage nach den operativen Modi dieser Bildzeugnisse, die sich insbesondere durch eine paradoxe zeitliche Konstellation auszeichnen und dadurch eine besondere Agency und affektive Wirkmacht entfalten (Straub 2016). Die Videotestamente wurden als antizipative Bildzeugnisse konzeptualisiert, in denen Vorwegnahme und Wiederaufführung auf vielfältige Weise ineinandergreifen (Straub, in: Schankweiler, Straub, Wendl 2019). Die Ergebnisse flossen unter anderem in die theoretische Arbeit zum Begriff des ‚(P)Reenactment‘ im Rahmen einer SFB-Themengruppe ein, wodurch die Affect Studies in Hinblick auf zeitliche Dynamiken erweitert wurden (Organisation der Tagung „P/RE/ENACT! Zwischen Zeiten Performen“ 2017, Publikation in Vorbereitung).
Der Transfer der untersuchten Bildgenres in zeitgenössische Kunstprojekte wird als Querschnittsbereich bearbeitet und stellt einen zentralen Gegenstandsbereich beider UPs dar. Es hat sich gezeigt, dass die von uns untersuchten, besonders stark affizierenden Bildgenres von Protest und Terror vielfach in der künstlerischen Praxis angeeignet und verhandelt werden (Schankweiler 2016a; Schankweiler 2016b; Straub 2016 & 2017). Die Grenze zwischen Bildern der Medien und Bildern der Kunst ist einerseits zunehmend fließend, andererseits bietet die Gegenwartskunst eine medienreflexive Perspektive auf digitale Bildkulturen und wird von den Künstler*innen selbst oftmals als Fortführung von politischem Protest mit anderen Mitteln verstanden. Diese Beobachtung bestätigte sich auch in einem interdisziplinären Kooperationsprojekt zu Online-Aktivismus mit der Schweizer Künstlerin Irene Chabr (im Rahmen von UP1). Künstlerische Remediationen und Reenactments von Bildzeugnissen und Medienikonen hatten in der Geschichte der Kunst immer schon Konjunkturen, haben jedoch in der von Social Media geprägten Alltagskultur neue Bedeutung erlangt (Wendl 2017). Der Querschnittsbereich mündete in der von Kerstin Schankweiler konzipierten und ko-kuratierten Ausstellung „Affect Me. Social Media Images in Art“ (11.11.2017-10.3.2018, Katalog: Höner, Schankweiler 2017). Sie wurde in Kooperation mit KAI10 in Düsseldorf realisiert und von einem umfangreichen Rahmenprogramm in Düsseldorf und Berlin begleitet. Die vielbeachtete Ausstellung stellte neun internationale künstlerische Positionen vor, die sich auf die neuen Bildphänomene der sozialen Medien beziehen und explizit Bildmaterial aufgreifen, das im Kontext von globalen politischen Auseinandersetzungen und zivilgesellschaftlichem Protest ins Netz gestellt wurde. Die Ausstellung machte vor allem eines deutlich und erfahrbar: Zeitgenössische visuelle Kultur und Kunst erzeugen in Zeiten der sozialen Medien eine Art Echokammer der Bilder, die sich gegenseitig verstärken, sich über Zeit und Raum hinweg gegenseitig affizieren und verwobene, nicht-lineare Genealogien ausbilden. Dabei lassen sich zwei wesentliche Entwicklungen konstatieren: Zum einen führen die Echokammern der Bilder zu einer Verschiebung von „diskreten Ikonen“ hin zu „generischen Ikonen“ (Unterscheidung in Perlmutter 2006), einem Bildtypus, der zwar auf das gleiche Motiv rekurriert, bei dem aber Akteur*innen, Orte oder Situationen wechseln können; zum anderen führt dies auch in der Kunst zu einer Verschiebung vom Einzelbild hin zu Bildclustern oder -schwärmen, die mehr sind als die Summe ihrer Teile und mündet in einer Ästhetik des Bildnetzwerkes.